news

Nathalie Portman und Juliane Moore in MAY DECEMBER ©Elite Film

Newsletter März 2024

Das Zürcher Filmpodium präsentierte im Oktober und November die Reihe „Rainer Werner Fassbinder: Irgendwo, eine Zärtlichkeit“, zu deren Eröffnung auch RWFF-Präsidentin Juliane Maria Lorenz-Wehling zu Gast war. Das Programm wurde von Studierenden des Seminars für Filmwissenschaft im Rahmen des Vermittlungsprogramms „Encounter RWF“ kuratiert. Ziel des vom Deutschen Filminstitut & Filmmuseum (DFF) ins Leben gerufenen Projekts ist es, eine jüngere Generation mit Fassbinders Arbeit bekannt zu machen und zugleich einen frischen Blick auf das Werk des Regisseurs zu ermöglichen. Die Einführungen zur Filmreihe übernahmen die Studierenden.

Gezeigt wurden unter anderem die Arbeiter-Fernsehserie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (1972–73) sowie die Filme KATZELMACHER (1969), MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL (1975) und DIE DRITTE GENERATION (1979). Zum kompletten Programm sowie einem Einführungstext von Seminarleiterin Stefanie Schlüter geht es hier: https://www.filmpodium.ch/reihen-details/57999/rainer-werner-fassbinder

Bei der Retrospektive der 74. Berlinale (15.–25.02.2024) präsentierte die Deutsche Kinemathek unter dem Titel „Das andere Kino“ Filme aus dem eigenen Archiv. Dabei sollten die zwischen den Jahren 1960 und 2000 entstandenen Produktionen sowohl west- als auch ostdeutsche Filmgeschichte jenseits des üblichen Kanons zeigen. Teil des Programms waren etwa Hansjürgen Pohlands TOBBY (1961), Frank Vogels DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE (1965) und Roland Klicks SUPERMARKT (1974) mit Eva Mattes.

Begleitend zur Retrospektive gibt es in der Mediathek der Deutschen Kinemathek neun weitere Filme zum kostenlosen Streamen. Neben Filmen von Helma Sanders-Brahms, Andreas Kleinert sowie einem frühen niederländischen Werk von Douglas Sirk ist dort noch bis zum 30. April auch 1 BERLIN-HARLEM (1974) von Lothar Lambert und Wolfram Zobus verfügbar. Ein schwarzer Ex-GI, der sein Leben neu ordnen muss, wird darin zur Projektionsfläche rassistischer Vorurteile und exotischer Sehnsüchte. In einem Gastauftritt wollen Fassbinder und Ingrid Caven den Protagonisten für einen Film anwerben: „Wir suchen aber keinen Schauspieler, wir suchen einen Schwarzen.“ 1 BERLIN-HARLEM kann man hier streamen: https://www.deutsche-kinemathek.de/de/online/streaming

Lothar Lambert bekam im Rahmen der Berlinale auch den Special Award des queeren Filmpreises Teddy verliehen. Lambert dreht seit den frühen 1970er Jahren Filme über gesellschaftliche Außenseiter, meist mit Laiendarstellern, sehr niedrigem Budget und nicht selten verspielt albernen Titeln wie GESTATTEN, BESTATTER!, VERDAMMT IN ALLE EITELKEIT und AUS DEM TAGEBUCH EINES SEXMOPPELS. Tilman Krause schreibt in der Welt, die Filme handelten von einen Berlin „von unten und von hinten“: „da, wo es schrill und schräg und trashig, kurzum: so daherkommt, wie es wirklich ist.“ Zum gesamten Artikel geht es hier: https://www.welt.de/kultur/kino/article129564485/Fuer-Lothar-Lambert-war-Berlin-eine-Fucking-City.html

Ganz herzlich möchten wir Hanna Schygulla nachträglich zu ihrem 80. Geburtstag gratulieren, den sie am 25. Dezember letzten Jahres feierte. Im Laufe ihrer mittlerweile über fünfzigjährigen Leinwandkarriere stand die Schauspielerin nicht nur in vielen Filmen Fassbinders vor der Kamera, sondern auch für Wim Wenders, Alexander Sukorow, Béla Tarr, Fatih Akin, Jean-Luc Godard und Carlos Saura. Aktuell kann man sie noch in Yorgos Lanthimos’ Frankenstein-Variation POOR THINGS im Kino sehen.

Andreas Kilb würdigt die Schauspielerin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ): „Schon in ihrer ersten Rolle bei Fassbinder, als Marie in ‚Katzelmacher‘, strahlt sie neben ihrer erotischen Unmittelbarkeit eine innere Distanz aus, die sich einer besonderen Willensanstrengung verdankt. Schygulla, als Tochter eines Holzhändlers in Oberschlesien geboren, hatte als Flüchtlingskind in München früh gelernt, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Vor der Kamera machte sie daraus einen Darstellungsstil, den man nicht als Trägheit missverstehen darf, weil er eine emphatische Form der Selbstkontrolle ist.“ (Zum Text: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/die-filmschauspielerin-hanna-schygulla-wird-achtzig-19403480.html DE) Passend zum Jubiläum verleiht die Deutsche Filmakademie „der Institution und Ikone“ Hanna Schygulla am 3. Mai eine Ehren-Lola.

Am 8. März feierte auch die Produzentin Regina Ziegler ihren 80. Geburtstag. Unter ihren zahlreichen Filmen befinden sich auch zwei ihres verstorbenen Mannes Wolf Gremm, in denen Fassbinder vor der Kamera stand: Die Dystopie KAMIKAZE 1989 und der Dokumentarfilm RAINER WERNER FASSBINDER – LETZTE ARBEITEN (beide 1982). Ihre Firma „Regina Ziegler Filmproduktion“ gründete sie 1972. Nachdem sie sich zunächst vor allem auf Projekte junger Nachwuchsregisseure konzentriert hatte, arbeitete sie später verstärkt fürs Fernsehen. Ihre jüngste Produktion ist Andreas Dresens auf der Berlinale uraufgeführter IN LIEBE, EURE HILDE über die NS-Widerstandskämpferin Hilde Coppi.

In seinem Geburtstagsgruß für die FAZ schreibt Claudius Seidl: „Regina Ziegler ist einer der modernsten Menschen in ihrer Branche und zugleich eine erstaunlich altmodische Figur – und womöglich liegt genau in diesem Widerspruch die Ursache für ihren Erfolg. […] Denn einerseits gab es den Beruf, als Regina Ziegler mit 29 Jahren anfing, nur in der männlichen Variante: […] Machotum, ein breitbeiniges Auftreten gehörten dazu, während sie sich anfangs die Frage anhören musste, ob sie die Sekretärin sei. Und andererseits spricht sie, als wären die großen Zeiten des Produzentenkinos nicht seit fünfzig Jahren vorbei, von ‚ihren‘ Filmen, schildert die Arbeit des Recherchierens, Schreibens, Inszenierens so, als wäre sie bei allem dabei und tief involviert gewesen. Da kein Regisseur widerspricht, wird man ihr das glauben dürfen.“ Den vollständigen Artikel gibt es hier: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/die-filmproduzentin-regina-ziegler-wird-80-19570436.html

Auch eine traurige Nachricht ereilte uns: Elisabeth Trissenaar ist am 14. Januar im Alter von 79 Jahren verstorben. Sie stand in vier Filmen von Fassbinder vor der Kamera, am prominentesten als Hanni in der Oskar-Maria-Graf-Adaption BOLWIESER (1977). Prägend für ihre Theaterkarriere war vor allem die langjährige Zusammenarbeit mit ihrem Mann: dem für seine ebenso durchdachten wie provokanten Inszenierungen bekannten Regisseur Hans Neuenfels.

In seinem Nachruf für den Tagesspiegel schreibt Peter von Becker, sie sei „keine absolute Göttin“ gewesen, sondern „selbst als bewunderte Protagonistin ein Kind der sehr säkular um mehr Theaterdemokratie und feministisch-solidarische Frauenbilder kämpfenden späten Sechzigerjahre“. Ihr Herz habe am stärksten fürs Theater geschlagen: „Für das Ergründen, Entdecken, Erfinden von dramatischen Figuren, die sie mit einer ungeheuren stimmlichen, gestischen Präsenz als verkörperte Poesie lebendig werden ließ.“ Den gesamten Text kann man hier nachlesen: https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-dramatisch-magische-zum-tod-von-elisabeth-trissenaar-11055298.html

Ian Penmans autobiografisches Fassbinder-Buch „Tausende von Spiegeln“ ist nun auch auf Deutsch erschienen. Tobias Obermeier schreibt dazu in der Jungle World: „Penmans knapp 250 Seiten umfassendes Buch ist ein faszinierendes Kaleidoskop präzise formulierter Überlegungen zu Fassbinders Wirken. […] Oder wie Penman sein Vorhaben formuliert: ‚Ich versuchte zu schreiben, wie Fassbinder selbst gearbeitet hat: sofort anfangen, einfach losmachen.‘“ Das Buch kann man unter anderem hier erwerben: https://www.suhrkamp.de/buch/ian-penman-fassbinder-t-9783518128022

Wer sich von dem Buch dazu inspiriert fühlt, einige von Fassbinders Filmen (wieder) zu sehen, hat dazu beim Streamingdienst Mubi die Möglichkeit. Sieben Filme sind dort aktuell verfügbar, darunter WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1971), FAUSTRECHT DER FREIHEIT (1975) und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (1978). Sehen kann man sie allerdings nur mit einem Mubi-Abo (13,99 Euro pro Monat).

In Deutschland kann man sich auf Todd Haynes’ neueste Regiearbeit MAY DECEMBER freuen. Der lose auf einer wahren Begebenheit basierende Film erzählt die Geschichte eine Schauspielerin (Natalie Portman), die eine einst in die Schlagzeilen geratene Frau (Juliane Moore) interviewt, weil sie sie für einen Film verkörpern soll. Haynes, der sich mit seinen doppelbödigen Melodramen in einer Traditionslinie mit Sirk und Fassbinder einreiht, dürfte auch hier wieder die Grenzen zwischen Identitäten sowie zwischen Wahrheit und Fiktion zerfließen lassen. Während der Film in den meisten Ländern schon als Video-on-Demand verfügbar ist, startet er hierzulande am 30. Mai im Kino. Einen Trailer gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=8z3JaevxEMA

Damit wünschen wir unseren Lesern und Freunden schöne, sonnige Osterfeiertage und melden uns im Sommer wieder mit Neuigkeiten rund um Rainer Werner Fassbinder.

Bereits im letzten Newsletter hatten wir auf Ian Penmans autobiografisch gefärbte Publikation „Fassbinder Thousands of Mirrors“ hingewiesen, in der die fortwährende Radikalität in RWFs Werk betont wird. Inspiriert von dem Buch hat der Cartoonist Nathan Gelgud einen kleinen Comic für die New York Times gezeichnet, bei dem er zu dem tröstenden Schluss kommt: „Fassbinder’s World is a Harsh One, But It’s also a Refuge for Freaks“. Den Strip kann man sich hier ansehen: https://t1p.de/4lute [Wenn man den Artikel über Google sucht, lässt sich die Paywall umgehen]

Die New Yorks Times gibt auch Filmtipps für das spannungsgeladene Genre der „Country Home Movies“, das dort folgendermaßen zusammengefasst wird: „Away from prying eyes, characters in these tales tend to revel in their idyllic surroundings as unseen, often sinister, forces work against them, resulting in an unforgettable stay.“ Neben Joseph Loseys THE GO-BETWEEN (1971) und Ingmar Bergmans SCHREIE UND FLÜSTERN (1972) findet sich dort auch Fassbinders CHINESISCHES ROULETTE (1976).

Das Wochenende, das ein Paar mit seinen Affären in einem Landhaus verbringt, eskaliert allmählich wegen eines teuflischen Spiels der gemeinsamen Tochter. Besonders hervorgehoben wird im Text die Kameraarbeit: „Michael Ballhaus’s cinematography constructs a claustrophobic ballet around the house’s mirrored interiors, tightening reflective nooses around each of its deeply guilty guests.“ Zum Artikel geht es hier: https://t1p.de/qaft7  [Auch hier lässt sich über Google die Paywall umgehen] CHINESISCHES ROULETTE gibt es auf DVD sowie bei Amazon Prime und Apple+ als VoD.

Auch in diesem Jahr haben wir wieder Abschied nehmen müssen von Freunden. Besonders schmerzhaft war der Abschied von dem wunderbaren Filmkenner und Filmkunstvermittler, Eugène Andréanszky in Paris, der nach langer Krankheit im Alter von einundsiebzig Jahren verstarb. Er war vor mehr als zwanzig Jahren vom damaligen Kulturminister Frankreichs Jack Lang zum Gründungsdirektor des Instituts „Les Enfants du Cinema“ (Die Kinder des Kinos) berufen worden und blieb bis zu seiner Pensionierung über zwanzig Jahre lang sein Direktor.

Wir trauen ebenso um den einzigartigen und von vielen deutschen und internationalen Filmemacher*innen verehrten Filmeditoren Peter Adam. Einer der Besten, großzügigsten und engagiertesten Schnittmeister dieses Landes ist am 4. Dezember von uns gegangen. Peter war nicht nur aber auch ein Freund und früherer Kollege von Juliane Lorenz Wehling, mit dem sie besonders gerne und mit großer Freude immer wieder den gegenseitigen Gedankenaustausch pflegte.

Damit verabschieden wir uns in die Winterpause und wünschen unseren Lesern und Freunden beste Gesundheit, ruhige Weihnachtsfeiertage und einen guten Rutsch. Wir melden uns im neuen Jahr wieder mit Neuigkeiten rund um Rainer Werner Fassbinder.

Mehr zu den Filmen von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/filme-von-fassbinder/

Mehr zu den Theaterstücken von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/theaterstucke/

Foto links: Nathalie Portman und Juliane Moore in MAY DECEMBER © Elite Film

Foto rechts: Rainer Werner Fassbinder und Ingrid Caven in 1 BERLIN HARLEM © Lothar Lambert

 

 

 

 

zurück