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Newsletter Juli 2023

In den letzten Monaten häuften sich die Todesnachrichten. So verstarb etwa am 1. Juni mit der Schauspielerin Margit Carstensen eine der wichtigsten und prägnantesten Darstellerinnen aus Fassbinders Kino. Zu Carstensens bekanntesten Hauptrollen zählen die Serienmörderin Geesche Gottfried in BREMER FREIHEIT (1972), die narzisstisch-tyrannische Modeschöpferin in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (1972) und die masochistische Titelheldin im Melodram MARTHA (1974). Auch nach RWFs Tod blieb Carstensen produktiv, arbeitete mit Regisseuren wie Leander Haußmann und Christoph Schlingensief zusammen und bewies dabei auch ihr komisches Talent.

In seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) schreibt Andreas Kilb: „Mit ihrem ‚Menschenfresserlächeln‘ (Benjamin Henrichs) aus rot geschminkten Lippen, ihren hochgesteckten Haaren und ihren mal puppenhaft starren, mal schlangengleich schwingenden Bewegungen war sie das Inbild der verstümmelten Seele.“ In dem Beitrag wird auch ihre Erwiderung auf die Behauptung, Fassbinder habe ihre Figuren absichtlich negativ angelegt, zitiert: „Dabei war ich das. Ich hab’ sie negativ gezeichnet. Weil ich keiner Frau traue – und mir selbst auch nicht. Also keinem Menschen.“ Den gesamten Nachruf gibt es hier: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/zum-tod-der-schauspielerin-margit-carstensen-18940816.html   Ebenfalls in der FAZ befindet sich auch unsere Traueranzeige: https://lebenswege.faz.net/traueranzeige/margit-carstensen

Auch den Filmhistoriker und Autor Hans Helmut Prinzler werden wir schmerzlich vermissen. 16 Jahre leitete er die Deutsche Kinemathek, sechs Jahre das Berliner Filmmuseum und kuratierte zahlreiche Berlinale-Retrospektiven. Unter seinen zahlreichen Publikationen befinden sich auch mehrere Texte über Fassbinder, die man teilweise auf Prinzlers prall gefüllter und liebevoll gepflegter Website nachlesen kann:  https://www.hhprinzler.de/archiv/texte-und-reden/

Über die Offenheit und Neugier von HHP schreibt Fritz Göttler in der Süddeutschen Zeitung: „Hans Helmut Prinzler war ein Filmliebhaber ohne rigiden Kanon, er ging gern ins Kino, auch ins neue Actionkino, er ließ sich verführen und sah die Bilder auf der Leinwand doch immer im Kontext ihrer Gesellschaft, ihrer Geschichte.“ Den gesamten Nachruf gibt es hier: https://www.sueddeutsche.de/kultur/hans-helmut-prinzler-nachruf-1.5947127

Von der Kostümbildnerin Barbara Baum mussten wir uns bereits im April verabschieden. Besonders in Fassbinders Spätwerk war sie für die historische Kleidung verantwortlich, etwa in Filmen wie BERLIN ALEXANDERPLATZ (1980), LOLA (1981) und QUERELLE (1982). Baum, die im Laufe ihrer Karriere auch Stars wie Meryl Streep, Jeanne Moreau oder Burt Lancaster einkleidete, fasste ihre sinnliche Herangehensweise selbst pointiert zusammen: „Ich denke in Stoffen.“ 2018 widmete ihr das Deutsche Filminstitut und Filmmuseum (DFF) in Frankfurt am Main eine große Ausstellung mit dem Titel „Hautnah“. In unserer Traueranzeige erinnern wir uns an ihre einzigartige „Lebens- und Gestaltungsfreude“ und ihr unvergessliches „weit hinaus schallendes Lachen“. Zur Anzeige geht es hier: https://lebenswege.faz.net/traueranzeige/barbara-baum

Der Verleger und Schwulenaktivist Egmont Fassbinder wurde wie sein Cousin Rainer Werner 1945 geboren. Er war Gründungsmitglied der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), outete sich 1978 mit fast 700 anderen Männern in einer Ausgabe des Magazins „stern“ und leitete 24 Jahre lang den schwulen Verlag rosa Winkel, der Schriften von Magnus Hirschfeld ebenso herausgab wie frühe Comics von Ralf König. Im Mai ist er nun verstorben, und Nadine Lange erinnert im Tagesspiegel an seine Verdienste:  https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/verleger-und-schwulenaktivist-egmont-fassbinder-ist-tot-9837365.html

Wie Fassbinder war auch der Regisseur Peter Lilienthal Mitbegründer des Filmverlags der Autoren. Während seiner über fünf Jahrzehnte dauernden Laufbahn drehte Lilienthal sowohl Theateradaptionen fürs Fernsehen als auch einen Hollywoodfilm mit Joe Pesci und das mit dem Goldenen Bären prämierte NS-Drama DAVID (1979). Kameramann Michael Ballhaus, mit dem er mehrmals zusammenarbeitete, erzählte, dass erst Lilienthal ihn zum Cinephilen machte.

Claudius Seidl beschreibt den im April verstorbenen Regisseur, der 1939 mit seiner Mutter vor den Nazis floh, als einen „Mann, der, trotz seiner Erfahrung, seiner Weltläufigkeit und der Geschichte mit den Deutschen […], einem deutschen und sehr viel jüngeren Gesprächspartner immer das Gefühl vermitteln konnte, man sei einander ebenbürtig“. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/regisseur-peter-lilienthal-im-alter-von-95-jahren-gestorben-18856964.html

In der ZDF-Mediathek gibt es gerade das Regiedebüt von Wolf Gremm, der später mit Fassbinder in der Hauptrolle den Science-Fiction-Film KAMIKAZE 1989 (1982) drehte. ICH DACHTE, ICH WÄR TOT (1973) erzählt, wie die 17-jährige Caroline (Y Sa Lo) durch beruflichen und familiären Druck zum Suizid getrieben wird. Auch für Gremms Ehefrau, die später sehr erfolgreiche Film- und Fernsehproduzentin Regina Ziegler, war es der erste Film. https://www.zdf.de/filme/filme-sonstige/ich-dachte-ich-waere-tot-100.html

Mit zweijähriger Verspätung ist der Udo-Kier-Film SWAN SONG kürzlich in Deutschland auf DVD und als Video-on-Demand erschienen. Die von Todd Stephens inszenierte Tragikomödie dreht sich um die wahre Geschichte von Pat Pitsenbarger; pensionierter Star-Coiffeur und einstige Drag-Legende einer Kleinstadt in Ohio.

Anlässlich der Veröffentlichung erzählt Kier der Elbe-Jeetzel-Zeitung, dass er sich als Kind gerne als Caterina Valente verkleidete und auch mit 79 Jahren noch nicht genug von der Schauspielerei hat. Berühmte Regisseure wie Fassbinder, Paul Morrissey und Gus Van Sant – so verrät er im Interview – habe er übrigens alle durch Zufall kennengelernt. https://www.ejz.de/blick-in-die-welt/kultur/interview-udo-kier-gutes-leben-id291097.html

Der britische Journalist Ian Penman hat im Verlag Fitzcarraldo Editions gerade sein Buch „Fassbinder Thousand of Mirrors“ herausgegeben. Unter anderen geht es darin um die Frage, warum RWF sich auch über 40 Jahre nach seinem Tod wenig als altehrwürdiges Denkmal mit abgeschliffenen Ecken und Kanten eignet. Diesem Widerstand gegen jegliche Vereinnahmung nähert sich Penman mit einem fragmentarischen, kaleidoskopartigen und autobiografisch gefärbten Stil. Über Fassbinders – ebenfalls sehr persönliche – Filme sagt er einmal: „These are exploitation movies, and what he is exploiting is his own life.” Eine Rezension des Buches gibt es in der Los Angeles Review of Books: https://lareviewofbooks.org/article/no-monuments-on-ian-penmans-fassbinder-thousands-of-mirrors/

Zum Abschluss ein Hinweis auf den neuen Film des ungebrochen produktiven François Ozon. Seit dem 6. Juli läuft in den deutschen Kinos MEIN FABELHAFTES VERBRECHEN; die humorvolle Adaption eines Bühnenstücks aus den 1930er-Jahren, das Ozon an heutige MeToo-Debatten anknüpfen lässt. (Einen Trailer gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=Lc4jyP0nnY4

In der ARD-Mediathek ist außerdem gerade Ozons vorletzter Film verfügbar. SOMMER 85 erzählt scheinbar die Geschichte einer ersten Liebe, entpuppt sich jedoch immer mehr als Reflexion darüber, wie sehr diese Zuneigung bloße Projektion und Illusion ist. Hier kann man sich den Film ansehen:  https://shorturl.at/pxCOU

Wir verabschieden uns damit in die Sommerpause, wünschen unseren Lesern und Freunden eine schöne Zeit und melden uns im Herbst wieder mit Neuigkeiten rund um Rainer Werner Fassbinder.

 

Mehr zu den Filmen von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/filme-von-fassbinder/

Mehr zu den Theaterstücken von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/theaterstucke/

Foto links: Margit Carstensen in MARTHA © Deutsche Kinemathek

Foto rechts: Udo Kier in  SWAN SONG von Todd Stephens  © Plaion Pictures

 

 

 

 

 

 

 

 

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